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JAHRESCHART 2022
Zum ersten Mal in knapp 40 Jahren bin ich von einer Jahreswertung nicht so ganz übezeugt. Das hat mehrere Gründe. Zum einen hat es mit dem sehr seltenen Phänomen zu tun, dass das erfolgreichste in diesem Jahr platzierte Lied nicht Jahressieger wird. Sondern mit etwas Pech (z.B. durch eine kürzere Sommerpause) fast nur auf Platz 3 gelandet wäre. Dass MIDNIGHT OIL ihrer lange unterbrochenen Silbermedaillen-Flut nun eine weitere hinzufügen müssen, hat damit zu tun, dass "Rising Seas" schon Ende 2021 recht erfolgreich war, jedoch (Ironie!) nur bis auf Platz 2 kletterte. Die damaligen Punkte alleine hätten schon für eine Top 20-Platzierung ausgereicht. Dummerweise zählen sie aber für das Kalenderjahr 2022 nicht. So kommt es zu der paradoxen Situation, dass die MEN WITHOUT HATS sich einen doch noch komfortablen Vorsprung erarbeiten konnten auf ein Lied, dem sie in der ewigen Bestenliste klar unterlegen sind.
Die Chart-Erstellung war 2022 oftmals recht müsam und unbefriedigend. Viele Male saß ich etwas länger als vorgesehen an der Sichtung (bzw. eher Hörung), um vielleicht noch das eine tolle Lied zufinden, das Chancen auf einen direkten Einstieg und Potenzial für mehr hat. Was erstaunlicherweise oft auf den allerletzten Drücker funktionierte. Normalerweise freue ich mich wie Bolle auf die letzten Tage des Jahres, wo ich alle erfolgreichen Lieder und Alben noch einmal Revue passieren lasse. Entdecke fast schon wieder vergessene Lieder aus dem Frühjahr neu, schwelge in der utopischen Anhäufung außergewöhnlicher Ohrwürmer und überzeuge mich davon, inwieweit die ermittelte Reihenfolge auch meinem Höreindruck entspricht. Dem war diesmal nicht ganz so: Es konnten sich doch einige Lieder sehr gut platzieren, bei denen ich eigentlich selbstverständlich davon ausging, sie würden im Laufe des Jahres noch überholt. Ist nicht passiert. Und es sind 2022 viele Lieder unter den insgesamt 67 Top 10-Hits, die ich eher im oberen Mittelfeld verorten würde oder die eine nur kurzzeitige Blüte hatten. Ich bezweifle etwas, dass ich mich in 1-2 Jahren noch an diese erinnern werde. Es war halt zu dem Zeitpunkt nichts Besseres auffindbar.
Feels like 1987 reloaded. Lange Zeit sah es so aus, als könnten die MEN WITHOUT HATS nach einer sagenhaft langen Unterbrechung ihren schon damals überraschenden Erfolg durch den Gewinn von zwei Kategorien wiederholen. Letztlich wurde es "nur" die Kategorie, die sie damals nicht gewonnen haben. Bei den Jahreshits 1987 erreichten sie #3 ("Walk on Water") und #7 ("Pop Goes the World"). Stibitzten sich aber diesmal den Ehrentitel der längsten Unterbrechung zwischen zwei Nr. 1-Hits. Der erstaunlicherweise angesichts einer Flut an lange nicht mehr gesehenen oder wieder zu Form auflaufenden Namen auch in den Folgejahren gar nicht mal so unumstritten ist. Einer der möglichen Aspiranten nahm ihnen schon diesmal mit einem fast noch überraschenderen Comeback die Auszeichnung als "Gruppe des Jahres" ab: THE ALARM! Die Waliser hatten übrigens ihren größten kommerziellen Erfolg ebenfalls im Jahr 1987 mit dem Radiohit "Rain in the Summertime". Bei mir landeten sie ihren einzigen Nr.1-Hit erst im Jahr 1991 mit einem etwas älteren Albumtrack ("Walk Forever by My Side" – erschienen 1985). Leider war die Band über ihren plötzlichen Erfolg alles andere als erfreut, denn der als poppige U2-Variante angelegte Sound war ihr von der Plattenfirma aufgedrückt worden. Man wollte allerdings weiterhin politisch, sperrig, unbequem bleiben, doch die neugewonnen Fans gingen nicht mit bei der radikalen Rolle rückwärts. Sänger Mike Peters hatte dann irgendwann ziemlich abrupt keine Lust mehr und startete eine Solo-Karriere. Die gar nicht lief. So dass er letztlich doch immer wieder auf die erfolgreicheren THE ALARM-Stücke zurückgriff. Seine alten Bandkollegen hätten schon noch gerne wieder mit ihm zusammengespielt, mussten sich aber damit abfinden, dass er den alten Namen weiterhin nutzte und schließlich seiner damaligen Begleitband dauerhaft übertrug. Peters selber kämpfte sich durch eine Leukämie-Erkrankung und weitere gesundheitliche Probleme; gelegentlich gab es sogar mal neues Material, welches allerdings weit hinter dem früheren Standard zurückblieb. Als er mitten in der Pandemie die Bilder vom Capitolsturm sah, reifte in ihm der Entschluss, die Band müsse das ganze aktuelle Geschehen mal musikalisch aufarbeiten. In einer sehenswerten Dokumentation ist nachzuvollziehen, wie in 50 Tagen Lokdown das erst selbst vertriebene Album "War" entstand, welches dann 2022 offiziell unter dem Titel "Omega" veröffentlich wurde. Es ist musikalisch gar nicht mal so ausgefeilt, jedoch sehr intensiv, erinnert u.a. an die SIMPLE MINDS und andere ehemalige Weggefährten, ist aber indiskutabel das absolut beste, was unter diesem Bandnamen in 30 Jahren erschienen ist. Einziger Nachteil vielleicht: Nichts war 2022 so alt wie die Themen von 2021.
Apropos: Die noch aktuelle Nr.1 von ASHE weckt bei mir erhebliche Erinnerungen an ein Lied von Transvision Vamp. "Landslide of Love" ist zwar aus dem Jahr 1989, was jedoch zeitlich immer noch nahe genug dran ist, um mehr als zufällig zu sein.
Vieles hat sich letztes Jahr geändert. Es gab eine erfreuliche Flut an musikalischen Anti-Kriegsbeiträgen. Es wurde auch viel fast vergessenes Repertoire vor allem aus den 70ern wieder aufgegriffen. Sowie teilweise noch sehr viel ältere Protestsongs. Die DROPKICK MURPHYS hatten da mit der Wiederbelebung des erstaunlich zeitlosen Vermächtnisses von Folk-Legende WOODY GUTHRIE das richtige Näschen. Einen Motto-Song zur Beschreibung des letzten Jahres gibt es praktisch auch: Anfang des Jahres von mir noch unbeachtet, lieferte ihn AWOLNATION mit seiner Bearbeitung von "Wind of Change": Ein sentimentaler Abgesang auf eine Ära von Frieden und Freiheit in ihrer naiv-unschuldigen Form. Exakt so fühlte sich 2022 an – nicht wirklich schön, eher etwas schmerzhaft und wehmütig!
Leider hat mich die immer noch defekte Festplatte mehr ausgebremst als befürchtet. Für die Finalisierung der Alben des Jahres fehlen noch Daten von 6-8 Wochen. Momentan sieht es nach einem so noch nicht dagewesenen Dreikampf aus. Eines der Alben hatte dabei deutlich mehr Airplay als die anderen, wäre damit favorisiert. Bei den einzelnen Songs sieht es aber genau gegenteilig aus: hier bildet es das klare Schlusslicht des Trios. Die Chancen auf ein (zumindest für mich persönlich) fast undenkbares Ergebnis standen noch nie so gut wie diesmal. Muss ich aber evtl. zu seinem späteren Zeitpunkt nachreichen.
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