SIDESTREAM MUSIC
von Kevin Behrendt

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Sidestream Music - Infos zur aktuellen Ausgabe

In Kürze ist die Musik genau ein Jahr so ziemlich von dort verschwunden, wo sie eigentlich hingehört: In die Bars und Clubs, auf die Bühnen, in die Hallen, auf die Festivals – unter die Menschen. Stattdessen war sie nur noch hinter einer Windschutzscheibe, hinter Plexiglas, auf einem Bildschirm oder auch mal in einer Plastikblase zu bewundern – auf Distanz und hygienisch abgeschirmt. Es wurde versucht, diese Distanz mit Livestreams und unzähligen Akustik-Versionen aus einem Studio oder dem heimischen Wohnzimmer zu überbrücken. Auf Seiten des mal mehr, mal weniger kreativen und/oder professionellen Publikums wurden viele witzige Ideen ausprobiert, zumeist Coverversionen, Überarbeitungen und Persiflage-Songs. Doch als das x-te Mal The Knack für "My Corona" herhalten mussten, die "Coronavirus Rhapsody" erneut umgetextet und andere Klassiker zur Genüge verwurstet waren, war der Sommer gekommen und wieder gegangen, Corona jedoch immer noch und der Lockdown wieder da. Also mussten neue Ideen her. Und mit der Geschwindigkeit, in der sich im ersten halben Jahr auf jedes Fetzchen neuer Musik gestürzt wurde, um es direkt nach allen Stilregeln zu covern, verfremden oder auch nur zu rezensieren, entstand tatsächlich etwas.

Wohl jeder dürfte inzwischen die wundersame Geschichte des jungen schottischen Postboten mitbekommen haben, der spontan einen neuseeländischen Shanty anstimmt und seinen Altersgenossen vorführt, wie cool und spaßbringend doch die Beschäftigung mit Musik aus Opas Mottenkiste sein kann. Das Video verbreitet sich in Windeseile, lädt unzählige Menschen dazu ein, sich in irgendeiner Form kreativ daran auszutoben und den einsamen Interpreten zu begleiten. Etliche Wochen später wird daraus ein Charthit und auf einmal schießen arrivierte Interpreten aus allen Löchern von Santiano bis Saltatio Mortis, die nichts Besseres zu tun haben, als Coverversionen zu produzieren, die allerdings in Authentizität und Intensität mit der völlig unprofessionellen Version von Nathan Evans nicht mithalten können. Die letzte bekanntere Gruppe, die das Lied im Repertoire hatte, THE LONGEST JOHNS, landet mit ihrer Version ebenfalls einen Hit mit Verspätung. In diesen plötzlichen Boom passt, dass die Gruppe zum Jahresabschluss ihren Fans eine Freude mit einem Mitsing-Video eines anderen Shantys machen wollte. Doch statt der erwarteten 50 Interessenten wurde die Band von hunderten Anfragen williger Mitsänger überflutet, Und es entstand ein Massenchor-Video, das der selige Gotthilf Fischer kaum besser hinbekommen hätte. - Was sich hieran zeigt: Nichts davon war geplant. Profesionalität spielt keine Rolle. Es geht um das gemeinsame Erleben, das Mitmachen, die vielfältigen kreativen Impulse. Statt Musik für die Massen entsteht neue Musik erst durch die Masse. Jede gute Idee hat eine Chance, Anhänger zu finden und sich durchzusetzen. Und vor allem entsteht dieses neue Spielfeld fernab der Musikindustrie – keine erspürten und forcierten Trends, keine gebaute Karriere, kein in rein wirtschaftlichem Interesse überproduziertes Nichts, das der gedachten Zielgruppe lieblos hingeworfen wird.

Anderes Beispiel: Vor kurzem kursierte ein Video aus Myanmar, wo eine junge Dame ihre Tanzübungen auf einem öffentlichen Platz ins Internet übertrug, während hinter ihr die Militär-Konvois auffuhren. Die getanzte Revolution sozusagen. Das Video ist laut Faktencheckern wohl echt. Bemerkenswerter als seine Existenz ist möglicherweise die Musik, zu der sich die Tänzerin bewegt. Früher hätte man sich gefragt wie dieses offenkundig einem komplett anderen Kulturkreis zugehörige Stück wohl seinen Weg um die Welt gefunden hat. Heutzutage legt es diese Entfernung allein schon für seine Entstehung per Internet zurück. Angefangen hat es vor 2 Jahren, als Videos eines blinden türkischen Straßenmusikers namens Bilal Göregen, wie er empathisch seine Handtrommel bedient und dazu seine Versionen bekannter Stücke einem mal mehr, mal weniger großen Publikum vorführt, hochgeladen wurden. Ein Video entstand offenbar in einer Hotelanlage in Meernähe, wo Bilal einsam – und von Passanten unbeachtet – ein in weiten Teilen Osteuropas äußerst beliebtes finnisches Volkslied interpretiert. Nicht wundern – das ist erst der Anfang! 2 Jahre später wurde dieses zuvor kaum beachtete Video schlagartig zum Kultobjekt, als jemand ein inzwischen unter dem Namen "Cat vibing" überall präsentes Meme dort hineinkopierte. Ob sich jemals irgendeine Katze real derart zum Rhythmus headbangend bewegt hat, ist nicht überliefert. Das gefiel sehr vielen Leuten, die dann auch noch Trump und Biden um den blinden Türken herumtanzen ließen, Bernie Sanders neben ihm auf die Bank platzierten und sehr viel Unsinn anstellten. Das Katzenvideo hatte offenbar aber auch ein Musiker aus Südafrika gesehen, der als Kopf einer Band namens The Kiffness bekannt ist. Da die Bandaktivitäten seit Corona wohl weitestgehend auf Eis liegen, suchte der junge Mann sich andere Betätigungsfelder und war nach diversen Covern letztlich bei Remixen diverser kursierender Musik angekommen. Seine Bearbeitungen nicht nur dieses Stückes bescherten ihm sehr viel Wohwollen und Aufmerksamkeit. Und eine Nr. 1 in meiner Chart.

Und was macht die Musikindustrie? Schickt ihre Anwälte los, um Krankenpfleger, Polizisten und Feuerwehrleute aufgrund ihrer im Lockdown mutmachenden "Jerusalema"-Performances wegen Urherberrechtsverstoßen abzukassieren. Und versucht mit Vetragskünstlern über Coverversionen noch ein bisschen Geld zu verdienen an etwas, an dem sie keine Rechte besitzt und was sie auch nicht verhindern kann. Vermutlich haben die ersten Manager schon angstfeuchte Albträume, dass eine Revolution von unten ihre preisgünstige Rapmucke hinwegspült, zur Abwechslung vielleicht wirklich ausschließlich die jeweiligen Urheber und Künstler belohnt – und nicht noch den ganzen behäbigen Apparat mitbezahlt. Es wäre die späte kalte Rache einer Generation, die als Raubkopierer schwerstkriminalisiert und als Influencer marginalisiert wurde, sich ihre eigenen Stars zu schaffen (ähnlich, wie das auf Youtube ja schon lange der Fall ist) und erstmals aus Interaktion und direktem Diskurs neue Musik zu schaffen, die Künstler und Publikum ohne klare Rollenverteilung vereint. Denn diese Musik soll gerade verbreitet, getauscht und im Wettbewerb um die beste Version kontinuierlich verändert werden. Das wäre in der Tat revolutionär und vor allem ist es auch Corona-krisenfest. Und würde die Musikindustrie, die sich schon mit der Einführung umfassender Streaming-Plattformen viele Jahre äußerst schwer getan hat, vor eine noch viel größere Herausforderung stellen.

UNLUCKY LOSERS:

DR. PEACOCK: Trip To Valhalla; LOEWENHERTZ: Right As Rain (Mesh Remix); KAFFKIEZ: Matilda; SABATON: Livgardet; STEPS & MICHELLE VISAGE: Heartbreak In This City; SPARKS: Left Out In The Cold; JENDRIK: I Don ´t Feel Hate; MATTHIAS REIM: Acht Milliarden Träumer; EISBRECHER: Im Guten Im Bösen

aus der Vorwoche:

DIRK MICHAELIS & ANOUK: Weihnachtszeit; CAPTAIN X: Wellerman (Harris & Ford Remix); BLACKMORE´S NIGHT: Nature´s Light; BON JOVI: Story Of Love; JORN: Faith Bloody Faith; ESKIMO JOE: 99 Ways; OMNIMAR: Feels Like Velvet; OYSTERBAND: Wonders Are Passing; CELTAS CORTOS: Adiós Presidente; SANTIANO ft. NATHAN EVANS: Wellerman; OZZY OSBOURNE ft. POST MALONE: It´s A Raid



SIDESTREAM MUSIC NO. 141 - DATE: 27.02.21


           
1 1 The Kiffness ft. Bilal Göregen - Ievan Polkka (Club Remix) 3
2 2 Go_A - ШУМ 4
3 5 Kaffkiez - Nie allein 8
4 3 Schattenmann - Epidemie (Eisfabrik Remix) 8
5 10 Little Big Town - Wine, Beer, Whiskey 2
6 4 Mägo de Oz con La Pegatina - Tu madre es una cabra 7
7 9 Walk Off The Earth ft. Harm & Ease - Toxic 7
8 6 Kaffkiez - Himmelblau 8
9 7 AWOLNATION feat. Grouplove - Radical 8
10 -- Martyn Joseph - When We Get Through This 1
           

Aussteiger

           
  8 Travis - Nina´s Song 5
           
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